Die Menge an wissenschaftliche Fachliteratur zum Themenbereich „Lernen“ scheint auf den ersten Blick so gewaltig, als dass sie sich einer gewissen Undurchdringlichkeit anmaßt, dennoch ist ihre Struktur aus der Betrachtung verschiedenen Blickwinkel der Wissenschaftsparadigmen stringent. Grundlegend sind es besonders behavioristische sowie kognitive Wissenschaftsparadigmen, welche den Begriff und dessen Funktionsweise verständlich beschreiben.
Entwicklung
Ausgehend von lerntheorethischen Ansätzen ist „Entwicklung“ primär als das Ergebnis von Erfahrung zu verkennen. Während des Heranwachsens macht das Individuum Lernerfahrungen, die in Summe als Wissen bezeichnet werden können. Die Entwicklung ist auf den Verlauf des Wissenserwerbs bezogen und beschreibt vielmehr einen fortlaufenden Prozess als einen Zustand. In traditionellen Lerntheorien wird die Art und Weise des Lernens in zwei Fallarten unterteilt. Lernen wird durch zwei Wirkungsweisen, der operanten Konditionierung und der klassischen Konditionierung, ermöglicht. Die Umwelt besitzt dabei eine starke Auswirkung auf die Entwicklung und die Verstärkung durch einen positiven oder negativen Operator, welcher, aus behavioristischer Sichtweise, als zentraler Faktor der Verhaltenssteuerung angesehen wird. Neben den beiden, ursprünglich aus der Psychologie stammenden, existiert noch ein dritter, der Soziologie abstammender, Lernmechanismus: das Beobachtungslernen. Alle drei Lernmechanismen eint die Existenz dreier zentraler Faktoren: Die Persönlichkeit des Individuums, sein Verhalten und seine Umwelt. Verbunden über die Theorie des reziproken Determinismus, beeinflussen sich die drei Faktoren gegenseitig im Sinne beidseitiger Wechselwirkungen (Degé, 2014).
Auf die Entwicklungsfrage entgegnen Neyer und Asendorpf (2017, S. 25): „Sie ist stets das Produkt des Zusammenwirkens von Anlage, Umwelt und aktivem Individuum. Losgelöst von einem der drei Faktoren kann keine Entwicklung stattfinden.“
Neyer und Asendorpfs Annahme soll nicht als unmissverständlich wahr zu verstehen sein, denn auch andere Entwicklungsansätze räumen Wahrheitsansprüche ein. So existieren exogenistische, endogenistische und systemische Ansätze, deren Verständnis von „Entwicklung“ durch die Annahme einer besonderer Auswirkungen der Faktoren „Anlage“, „Umwelt“ und „aktives Individuum“ auf die Entwicklung des Individuums.
Für Behavioristen ist der Begriff „Entwicklung“ insofern unnötig, als dass er von Vertretern anderer psychologischer Schulen abgegrenzt vom Lernbegriff verwendet wird. Anders formuliert, stellt der Entwicklungsbegriff für sie keinen Umstand dar, da sich Entwicklung (E) aus kumulierter Lernerfahrung (LE) ergebe:

Watsons Optimismus
Die behavioristische Prämisse der Akzeptanz des Entwicklungsbegriffs, liegt in seiner vollständigen Umweltabhängigkeit und kann demnach nur in gleichem Maße stattfinden, in dem beide durch die Umwelt beeinflusst werden. Dieser Ansicht war auch John B. Watson, nach dem 1924 sogar eine Strömung: „Watsons Optimismus“ benannt wurde.
Seine Überzeugung, menschliche Entwicklung sei allein durch Umweltfaktoren determiniert, wird wie folgt festgehalten:
„Give me a dozen healthy infants, well formed, and my own specific world to bring them up, and I’ll guarantee to take any one at random and to train them to become any type of specialist I might select – doctor, lawyer, artist, merchant, chief and yes, even beggar and thief, regardless of his talents, tendencies, abilities and the race of their ancestors. There is no such thing as an inheritance of capacity, temperament, mental constitution, and behavioral characteristics“ (Watson, 1930, S. 82 ff).
Das absolute Gegenstück zu Watsons Lernansätzen und den anderen Behavioristen, wie Ivan Pawlow (1849-1936) oder Burrhus Skinner (1904-1990), die selbige Ansichten teilten, ist im endogenistische Entwicklungsansatz beschrieben.
Der endogenistische Entwicklungsansatz geht davon aus, dass jeder Mensch innerlich eine gewisse Grundstruktur an Entwicklungsmöglichkeiten aufweist, welche zwar durch Umweltstimuli ausgelöst, deren Lernreaktion aber stets im Rahmen endogener (innerer) Begrenzungen bleibt.
Endogenistische Ansätze basieren auf Prozessen der Entfaltung von Anlagen nach festgelegter innerer Struktur. Einer ähnlichen Auffassung ist der Psychiater und Pädagoge Erich Stern (1889-1959), welcher bereits 1951 „Entwicklung“ als, „unter der Einwirkung äußerer Faktoren erfolgende Entwicklung der Anlagen festhält, wobei die Entfaltung nach einer in den Anlagen selbst liegenden Gesetzmäßigkeit erfolge und den äußeren Faktoren die Bedeutung der Auslösung zukomme“ (Stern, 1951).
Wie in der Definition bereits anklingend, stehen Vertreter des endogenistischen Ansatzes der Umwelt als einzigen ursächlichen Entwicklungsfaktor kritisch gegenüber. Die Umwelt, mitsamt ihrem Spektrum an Reizen würde den natürlichen Entwicklungsverlauf vielmehr stören, als dass sie der Entwicklung zugutekäme (Neyer & Asendorpf, 2018).
Die Unvereinbarkeit beider Sichtweisen wird aus Literatur ersichtlicher:
„Aus endogenistischer oder exogenistischer Sicht ist Entwicklung entweder das Produkt von Reifungsprozessen oder von Umweltbedingungen, nicht aber von beidem zugleich“ (Krettenauer, 2014, S.25 f.).
Der aus der Systemtheorie hervorgehende systemische Entwicklungsansatz sieht Entwicklung ebenfalls als Produkt aus Person und Umwelt, betrachtet die beiden Entwicklungsfaktoren jedoch als Systeme, die durch den Austausch von Elementen eine Veränderung hervorrufen.
„Seelische Entwicklung ist […] das Ergebnis einer Konvergenz innerer Angelegenheiten mit äußeren Entwicklungsbedingungen“ lässt Stern über den Entwicklungsbegriff verlauten (1914, S.25 f.). Stern legt mit dieser Aussage schon 1914 den Grundstein für den Gedanken an eine wechselwirkende Beziehung zwischen Person und Umwelt.
Für Systemtheoretiker stellen die Person sowie ihre Umwelt zwei informationsverarbeitende Systeme dar, welche durch Veränderung des einen, ebenfalls Konsequenzen für das andere System, so auch innerhalb des jeweiligen Systems, bedeuten. So gehen menschliche Veränderungen unweigerlich mit einer Veränderung dessen Umwelt einher und ebenso konsequent entstehen Umweltveränderungen durch den Menschen. Daraus entsteht der aus dem Jahr 1980, den pädagogischen Ansätzen der Selbstsozialisation stammende, systemischen Entwicklungsansatz, welcher davon ausgeht, dass Entwicklung in dreifacher Art und Weise stattfinde: Reaktiv, evokativ und proaktiv.
Zinnecker beschreibt 2000 die drei Modalitäten folglich: Ähnlich wie bei psychologischen Wahrnehmungsfiltern, beschreibt reaktive Entwicklung die subjektive Wahrnehmung objektiver Umweltanreize und dessen vorgenommene Bewertung. So nehme jedes Individuum, dass sich durch ein anderes unterscheide, seine Umwelt unterschiedlich wahr und reagiere auf andere Reize.
Das Hervorrufen unterschiedlicher Bedeutungen für die vorab unterschiedlich wahrgenommenen Umweltreize, wird als evokativ bezeichnet, wie auch durch die Reziprozität gegenseitige Beeinflussung entstehe. Besonders interessant im Hinblick auf das Thema dieser Arbeit ist die dritte Entwicklungsmodalität.
Proaktive Entwicklung ist dadurch geprägt, dass das Individuum Wahlentscheidungen trifft, die seinen Lebensweg nachhaltig beeinflusst, wie dies beispielsweise bei Entscheidungen für einen bestimmten Beruf oder die Partnerwahl der Fall ist (Zinnecker, 2000).
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